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Die Technik ist dabei, sich zu Tode zu siegen - Neue Zürcher Zeitung - NZZ

Gastkommentar

Lange haben uns die Errungenschaften der Technik glücklicher gemacht – bald könnte sich das umkehren.

Noch beissen wir selber in den Apfel - aber wie lange noch?

Noch beissen wir selber in den Apfel - aber wie lange noch?

Kin Cheung / AP

Was macht Menschen zufrieden und glücklich? Dies ist die wohl wichtigste Frage im Leben eines jeden Menschen. Die Erfahrung und auch wissenschaftliche Studien sagen: Ein hohes Mass an materieller Grundsicherung, individueller Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind förderliche soziale Glücksbedingungen.

Diese Bedingungen sind in den westlichen Ländern ausreichend gegeben und relativ stabil. Was sich dagegen rasant entwickelt und verändert, ist die Matrix der Technik, die unsere Gesellschaften trägt und zusammenhält – Internet, mobile Endgeräte, soziale Netzwerke, Virtual Reality, Digitalisierung, Big Data, Automatisierung, Roboterisierung, Einführung von KI, Internet der Dinge, 3-D-Druck.

Die Bedingungen des Glücks

Wie wirken sich diese grundstürzenden Veränderungen auf die Bedingungen der Möglichkeit menschlichen Glücks aus? Greifen wir zwei zentrale Glücksbedingungen heraus, die so tief in das evolutionär gewordene Gefüge der menschlichen Psyche eingeschrieben sind, dass sie als unveränderlich gelten können: sinnhafte Herausforderungen und Kompetenzwachstum. Gute Gefühle – in ihrer Summe «Glück» – sind der innere Lohn für kompetentes Bewältigen von Überlebensproblemen. «Glück ist eine Überwindungsprämie», so hat es der Schriftsteller Manès Sperber einmal formuliert.

Dabei gilt für die Herausforderungen: Je sinnhafter, ja existenzieller sie sind, desto glückspendender sind sie auch. Wie Sebastian Junger in seinem Buch «Tribe» darstellt, sind es oft durch gemeinschaftlichen Beistand überlebte Katastrophen, die alte Menschen als ihre glücklichsten Zeiten erinnern. Und umgekehrt: Je sinnentleerter Pseudo-Herausforderungen sind, desto unglücklicher machen sie. Dies zeigt die enorme Resonanz, die der zu früh verstorbene Anthropologe David Graeber auf sein Konzept von den «Bullshit-Jobs» erfahren hat. Jobs, die nicht wirklich wertschöpfend sind, leer drehende Rädchen in losgelöst-ausufernden bürokratischen Apparaten.

Nun ist es aber so, dass – abgesehen von Jungtieren und Jugendlichen, die noch dringend Kompetenzen erlernen müssen – Erwachsene in der Tendenz eher nicht aktiv nach Herausforderungen suchen. In der Steinzeit gab es genügend natürliche Zwänge und Gefahren. Hier brachte der Instinkt, den wir «innerer Schweinehund» nennen, noch Überlebensvorteile: Wer gerade nicht in Not war, sollte sich ans Feuer legen, Kräfte sammeln und Risiken vermeiden.

Heute sind es vor allem die gesellschaftlichen Zwänge der Arbeitswelt, die uns Menschen noch ausreichend am Laufen halten. In der Freizeit sind wir weiterhin gern bequem – Übergewicht und Bewegungsmangel samt ihren Folgen werden ein immer grösseres Problem. All dies erklärt, was Psychologen «Paradox der Arbeit» nennen: Die meisten und intensivsten Glücksmomente erleben viele Menschen bei ihrer Arbeit. Was sie aber bewusst anstreben, ist die Freizeit. Menschen sind genetisch darauf geprägt, Anstrengungen zu vermeiden und die schnelle Lust zu suchen, obwohl das nicht nachhaltig glücklich macht.

Genau diese Strebungen sind seit je die Treiber der Technikentwicklung: Verminderung von Bewältigungsanstrengungen durch technische Zusatzkräfte und Erleichterung des Zugangs zu schneller (Sinnes-)Lust.

In der Vergangenheit und auch noch heute geschieht dies in einem Masse, das unsere Freude steigert und unser wahres Glück nicht ernsthaft in Gefahr bringt. Kräne und Bagger besorgen die Grobarbeit, danach macht die Handwerkskunst der Baumeister noch einen wichtigen Unterschied. Wenn ich ein Buch schreibe, hilft mir das Internet enorm bei der Materialrecherche. Die mühsame, aber tief befriedigende Schreibarbeit erledige ich noch selbst. Das 8-K-3-D- Heimkino macht Lust auf ferne Länder – noch ersetzt es das Reisen nicht ganz.

Herausforderungen gehen verloren

Doch schon jetzt ist erkennbar, dass diese Entwicklungslinie an einen Kipppunkt kommen könnte: Es zeichnet sich ab, dass die Technik ein derartiges Potenzial gewinnt, dass sie unsere Glücksfähigkeit auf allen Ebenen untergräbt. Die Technik ist dabei, sich zu Tode zu siegen. Potenziell stiehlt sie uns die meisten Herausforderungen.

Die Produktion aller basalen Konsumgüter in einer Qualität, die die menschlichen Erlebensmöglichkeiten zu 90 Prozent ausschöpft, die meisten Erhaltungsarbeiten und halbwegs sinnvollen Dienstleistungen – all das wird in absehbarer Zukunft im Prinzip von vollständig automatisierten Fabriken und KI-gestützten Robotern erbracht werden können. Wirklich sinnvoll-existenzielle Herausforderungen wird es dann nur noch für eher kleine Gruppen hochbegabter Wissenschafter, Leader und Künstler geben. Und vielleicht für eine etwas grössere Gruppe begabter «Beziehungsarbeiter» wie Lehrer, Therapeuten oder Pfleger.

Die Masse der Normalbegabten wird sich zu Recht fragen: Wozu noch Kompetenzen erwerben? Wozu sich mühevoll Wissen aneignen? Wo doch alles jederzeit auf dem (Silber-)Tablett bereitliegt. Warum das Wissen noch mühsam in den Kopf formen, wo ich es doch so sicher im Griff habe?

Es wird immer schwerer werden, Schülern zu erklären, warum sie die Mühen des Lernens auf sich nehmen sollten. Und es wird immer schwerer werden, Schüler von den gewaltigen Ablenkungen fernzuhalten, die sich auftun im Netz, der Maschine mit dem schier unendlich steigerbaren Ablenkungspotenzial. Der Engpass im Netz ist die Aufmerksamkeit, der Kampf um sie wird mit immer schrilleren, sich ins irreale steigernden und an immer basalere – und damit stärkere – Instinkte appellierenden Reizen geführt (Sex, Gewaltszenarios, lerntechnische Tricks, die süchtig machen). Die Verkürzung der Zeitfenster zwingt zur Zerschnipselung der Information. Eine entsprechende Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne bei Heranwachsenden ist nachgewiesen.

Das Netz nährt sich von uns

Eigentlich sollten sich starke Persönlichkeiten aus dem Netz nähren, um innerlich zu wachsen, um kulturellen Reichtum in sich zu akkumulieren. Doch immer stärker kommt es genau umgekehrt: Das Netz nährt sich von den Daten der Menschen. Die Netz-Spinne saugt sich mit Daten fett, die Menschen primitivieren und dekulturieren zu leeren ADHS-VRombies (aus Virtual Reality und Zombie). Sie enthirnen sich in die Cloud. Und so hebelt die Technik die evolutionär festgeschriebene menschliche Glücksmechanik auf allen Ebenen aus.

Haben also komplexe nichtlineare Systeme – und die menschliche Gesellschaft ist ein solches – generell eine Tendenz, aus der Wucht ihrer Entwicklung heraus die eigenen Existenzvoraussetzungen zu untergraben? Ist das hier skizzierte Paradox der «Tech-Moderne» eine Facette davon? Brauchen wir neben dem politischen Konservatismus, der uns vor ideologiegetriebenen Fehlentwicklungen schützen will, nun noch einen technologischen Konservatismus?

Ist es gar Zeit für einen neuen, diesmal gerechtfertigten Maschinensturm? Oder gilt es, mehr zu gestalten, und brauchen wir eine durchgreifendere Technologie- und Wirtschaftspolitik? Fragen, die wir uns heute stellen müssen, damit es morgen nicht zu spät ist.

Dietmar Hansch ist Facharzt für Innere Medizin und Psychotherapeut mit Fokus Verhaltenstherapie. Seit 2014 leitet er den Schwerpunkt Angsterkrankungen an der Privatklinik Hohenegg in Meilen.

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