Lee »Scratch« Perry galt als Gott. Nicht im übertragenen und hastigen Sinne, wie man Musiker zu »Göttern« an der Gitarre oder hinter dem Schlagzeug erklärt. Sondern als echter Gott, der lebend unter den Lebenden wandelte. Er gehört in eine Reihe mit Baron Samedi, Maman Brigitte, Filomez, Ti-Jean Petro und anderen Geisterwesen aus dem kreolischen Pantheon des Voodoo, der auf Jamaika, seiner Heimat, unter dem Namen Obeah praktiziert wird.
Geboren wird er 1936 in einem Weiler namens Kendal. Die Wege sind aus Schlamm, die Hütten aus Stroh und Wellblech, die Tiere sehr glückliche Schweine. Die Fliegen dort sind so groß, dass die Kolibris darunter kaum auffallen. Und wenn, wirken sie wie schillernde Elfen. Geboren wurde Perry, wie er sagte, »um die Welt zu erlösen«.
Der Vater war Straßenarbeiter, die Mutter schuftete im Zuckerrohr. Der Sohn geht mit 15 von der Schule ab und lebt als Glücksspieler, Tänzer und Bauarbeiter, bevor er sein Glück in der Hauptstadt versucht. Die Klänge, zu denen er sich gegen Geld bewegte, will er selbst herstellen. Gegen Geld. Er ist ein Gott, kein Heiliger.
Und doch huldigt ihm unwissentlich jeder, der zu Bob Marley manchmal mit dem Fuß wippt oder zu Dub mit dem Kopf nickt, beim Hip-Hop den Sprechgesang oder eher das Scratching interessant findet, sich über einen gelungenen Remix freut oder auch nur zu Tanzmusik bewegt. Er hat das alles erfunden oder war dabei, als es geschah.
In den frühen Fünfzigerjahren ist Musik auf Jamaika ein Tagesgeschäft, abhängig von der Gunst der Zuschauer und unters Volk gebracht mit mobilen »Sound Systems«, Boxen auf Rädern. Und Platten, Platten, Platten. Bestenfalls solche, die ehemalige Gastarbeiter aus den USA mit auf die Insel bringen, seltene Exemplare. Jazz. Rhythm'n'Blues. Der größte Plattenbesitzer ist Clement »Coxsone« Dodd. In seinem »Studio One« ergattert der talentierte Mr Perry einen Job.
Ein junger Gott aus der Provinz
Bald arbeitet der junge Gott aus der Provinz mit allen namhaften Produzenten zusammen, denn er konnte zaubern: Entlockt dem altertümlichen und durch tropische Feuchte irreparabel in Mitleidenschaft gezogenen Equipment bizarre Klänge von einer Schönheit und Energie, wie sie die Welt noch nicht gehört hatte – und zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht hören konnte. Sie erklangen nicht in London oder New York, sondern weit weg davon.
Als 1966 der äthiopische Kaiser Haile Selassie die Insel besuchte, stand Perry in der bewundernden Menge. Der Heilsbewegung der Rastafari, die neben Haile Selassie später auch Perrys Schützling Bob Marley zu ihren Propheten zählen sollte, stand der Musiker dennoch skeptisch gegenüber. Sein Vorbild war der jamaikanische Politiker, Bürgerrechtler und – wie man heute sagen würde – antikoloniale Aktivist Marcus Garvey. Bilder von Garvey trug Perry bis ins hohe Alter mit sich herum.
Zunächst ist er es auch, der ab 1967 und bald auf eigene Rechnung den zum Ska beschleunigten Rocksteady um afrikanische Rhythmen erweitert – bald ergänzt um Orgelklänge, afrikanische Rhythmen und Ausschnitte aus Filmen oder aufgenommenen Geräuschen. Erfunden war der Reggae, und er erblickte zusammen mit dem Sample das Licht der Welt.
Die Welt allerdings ist ein Haifischbecken, niemand gönnt dem anderen die Butter auf dem Brot, am wenigsten Perry – und so zieht er sich ab 1973 in sein eigenes Studio zurück. »Black Ark« ist ein düsterer Betonbunker hinter seinem Haus im damals bürgerlichen Viertel Washington Gardens. Umgeben von Hühnern und Becken für Fische, gehüllt in ein gewaltiges Gewölk aus Marihuana, schreibt Perry hier Musikgeschichte.
Zur Verfügung steht ihm nur ein altes Vierspurgerät, aber seine Innovationsfreude und an Wahnsinn grenzende Schaffenskraft macht Unmögliches möglich. Das Schlagzeug ist mit Maschendraht umspannt, um einen besseren Sound zu erzielen, Mikrofone vergrub er in der Erde, um einen dumpferen Sound zu erzeugen. In einem Raum, der heute mit Sperrmüll vollgestellt ist, beherbergt Perry damals einen gescheiterten Musiker namens Bob Marley – und bringt ihn auf die Idee, es doch mal mit Reggae zu versuchen.
Vom Vermögen für dessen globalen Siegeszug, der den Beginn der Weltmusik markiert, sieht Lee »Scratch« Perry nichts. Reich wird der weiße Jamaikaner Chris Blackwell, den Perry zeitlebens als »Vampir« bezeichnen und das auch ernst meinen wird. Immer mehr vergräbt Perry sich in seinem Studio, immer bizarrer werden seine Produktionen. Nachdem er mit »People Funny Boy« 1968 den Reggae erfunden hat, erfindet er nun: den Dub.
Technische Grundlage hierfür sind »Dubplates«, sozusagen die nackten Rhythmusspuren der Hits, die Perry nach wie vor für andere Musiker produziert. Nach Dienstschluss fängt er an, mit den perkussiven Grundlagen zu experimentieren. Zusammen mit seiner Band, den Upsetters, legt er Hall über Hall, baut Echos ein und schöpft so, unter Ausnutzung der Leere und in Konkurrenz zu dem Kollegen King Tubby, einen völlig neuen Musikstil. Grundlage und Höhepunkt des Genres ist »Super Ape«, sein Album von 1976.
Er verstand das Studio als Instrument
In »Black Ark« produziert er nicht nur Bob Marley und die Wailers, The Heptones, Augustus Pablo oder Max Romeo. Er legt auch Hand an die Arbeiten von Paul McCartney, The Clash und Robert Palmer. Analog zu den Beatles, Pink Floyd oder Kraftwerk verstand Perry ein Studio selbst als Instrument.
Oder, wie er es auf seine eigene Weise ausdrückte: »Schau, das Studio muss etwas Lebendiges sein. Die Maschine muss lebendig und intelligent sein. Ich speise meinen Geist in die Maschine ein, und die Maschine schöpft eine Wirklichkeit. Die Knöpfchen sind das Gehirn, und über die Drähte kann ich es in einen lebendigen Menschen verwandeln.«
Dieser animistische Ansatz, der die Magie in der Maschine sehen will, führt 1979 zur Katastrophe. Offiziell ist bis heute ungeklärt, ob Lee »Scratch« Perry sein Studio selbst angezündet hat oder ob es Brandstiftung war. Sein jüngerer Bruder, der heute noch in der baufälligen Villa neben der verkohlten Ruine haust, war dabei und sagt: »Es war Lee«, aus Angst vor Dämonen oder auch nur wegen einer umgestürzten Kerze.
Eine Ära ist zu Ende, Perry flieht förmlich nach London – wo er weiterhin gefeiert wird als Urvater des Genres und Pate der aufkommenden technoiden Tanzmusik. Seiner Gesundheit tut vor allem der Alkohol nicht gut. Seine Rettung ist Mireille, seine zweite Ehefrau aus der Schweiz. Mit ihr lebt er abwechselnd in Einsiedeln südlich von Zürich und in Negril an der jamaikanischen Westküste.
Er komponiert weiter, tourt weiter, veröffentlicht weiter, bisweilen jährlich ein Album. Er arbeitet mit Größen wie Bill Laswell, Adrian Sherwood oder Sly Dunbar, beeinflusst ganze Generationen nachfolgender Musiker – von den Red Hot Chili Peppers über The Prodigy bis zu Aphex Twin oder Autechre.
Ein Clip aus dem Studio der britischen Elektroniker von The Orb, bei den Aufnahmen zu »The Oberserver In The Star House«, zeigt Perry bei der Arbeit. Er kichert, grübelt, tippt kryptische Texte in sein Smartphone, tanzt, bastelt unermüdlich irgendwelche Skulpturen und macht Quatsch – um im entscheidenden Moment aufzuspringen und das Knöpfchen mit dem richtigen Sample zu drücken.
Klare Worte waren ihm da schon nicht mehr zu entlocken. Man musste Lee »Scratch« Perry nehmen als das, was er ist – ein verspieltes Kind im Körper eines lustigen Greises. Er trägt eine verspiegelte Schirmmütze, Jogginganzug und ein Porträt der englischen Königin unter den Einlagen seiner ebenfalls mit Muscheln und Draht beklebten Motorradstiefel. In der Schweiz war er ein Paradiesvogel. In Jamaika, seinem Element, verehrten ihn die Menschen wie einen Kaiser. In den Klubs hielt er Hof, nahm Demotapes entgegen und verteilte Joints aus der Plantage seines Hauses an der Küste.
Dem großen Publikum blieb Perry bis zu seinem Lebensende weitgehend unbekannt. Zu skurril, zu avanciert, zu eulenspiegelhaft war seine ganze Erscheinung, war seine Kunst. Ihm erging es wie allen alten Göttern, die langsam ins Vergessen driften. Jetzt ist er mit 85 Jahren in einem Krankenhaus auf Jamaika gestorben.
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