Album der Woche mit Drangsal: Schnuckelchen sucht Spielgefährten - DER SPIEGEL
Sollte jemals jemand Die Ärzte beerben, ist der Berliner Musiker Drangsal dafür ab jetzt mit zeitgeistiger Pop-Lyrik und Pathos-Punk strategisch gut aufgestellt: Seine »Exit Strategy« ist unser Album der Woche.
Album der Woche:
Man sagt ja immer, Deutschland habe keine Popstars, dabei ist doch in Berlin so gut wie jeder einer. Na gut, das war jetzt gemein. Die Grenze zwischen Möchtegern und Megatalent ist auch in der Hauptstadt so fließend wie auf dem Sofa von »Sing meinen Song«. Dass Max Gruber großes Pop-Talent besitzt, war allerdings schon klar, als er 2016 sein erstes Album unter dem Künstlernamen Drangsal veröffentlichte. »Harieschaim«, eine Hommage an Grubers Herkunftsort in der Pfalz, war ein charmantes, manchmal auch gefährlich funkelndes Debüt, klang aber noch zu sehr nach großen Vorbildern, The Cure, New Wave, die Jugendzimmer-Gothic der Provinz halt. Damals sang Gruber noch auf Englisch.
Ein hervorragendes, missverstandenes Nachfolgealbum und einige Jahre Berliner Indie-Glamour später tritt Gruber jetzt erneut an, seine nun weitgehend ausformulierte Idee von poptauglicher deutschsprachiger Rockmusik vorzustellen. Es hat sich gelohnt, auf die vollständige Entpuppung des inzwischen 28-jährigen Sängers, Songwriters und Musikers zu warten.
Seine »Exit Strategy« aus allem Schmerz und Drangsal der künstlerischen Selbstfindung heißt, sich dem Pop nun ganz unverschämt in die Arme zu werfen. Der auf »Zores« oft noch zwischen Indietum und Schlagerwille verzagte Sound ist jetzt selbstbewusst breit, laut und weit, er öffnet Räume und füllt sie mit Druck. Hymnen wie »Exit Strategy«, »Liedrian« oder »Benzoe« wollen durch den Radioäther und Festivalboxentürme gepustet werden, sie kombinieren kantige Gitarren (in »Rot« sogar Metal) mit Grubers griffsicheren Refrains und seiner jungenhaften Stimme, die immer noch zu sehr an Farin Urlaub erinnert (aber das nur nebenbei).
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Bei der Produktion des Albums war erstmals nicht der übliche Freundeskreis aus dem Berliner Nerven- und Dagobert-Umfeld (u. a. Max Rieger, Markus Ganter) federführend und hilfreich, sondern Patrik Majer, der zuvor für Rosenstolz und Wir sind Helden tätig war. Das Ergebnis ist etwas sehr Nervöses zwischen Maximo Park und Mark Forster. Was nervt, sind die in jedem Song bis zum Erbrechen eingesetzten »Oh-eeh-Oh« und »Oh-ohohoh-Ho«-Chöre. Aber auch das gehört wahrscheinlich zum Emanzipationsprozess dazu, wenn man’s endlich wissen will in den Charts.
Gleich im ersten Stück, »Escape Fantasy«, poltern die Drums, flirren die Gitarren und Streicher so hysterisch durch so viele Hall- und Chorus-Effekte, dass man sich im Romantik-Pomp von Ultravox wähnt – oder bei Coldplay, je nach Alter des Rezipienten. »Ich weiß doch gar nicht, wer ich bin«, klagt Gruber, natürlich kokett: Er weiß jetzt ganz genau, wer er ist und was er will.
Sich von sich selbst zu emanzipieren, darum geht es in den Texten: Seine in der Vergangenheit manchmal vielleicht übergriffig und allzu nassforsch wirkende Extrovertiertheit, den inneren Beelzebub, der ihm auf dem Cover entgegenstarrt, will er sich austreiben. In »Escape Fantasy« reflektiert er die Schulhofgewalt, unter der er offenbar als Kind litt: »So wurde aus dem Bub ein Biest, ich erinnere mich ganz genau«, singt er – setzt dann aber in den folgenden Songs dazu an, diese alten Bilder und Schmerzen hinter sich zu lassen, auf einer Reise aus der Depression in die Nahbarkeit. Gerade in gesellschaftlich unsicheren Zeiten ist das Verlangen nach Zugehörigkeit und Liebe ja groß, Isolation hatten wir jetzt wohl alle genug: »Die Welt zerfällt in ihre Einzelteile und ich hab‘ Langeweile, kannst du sie mit mir teilen? Bin nicht mehr so gern alleine, bleib‘ doch noch eine Weile bei mir«, singt er, oder: »Ich bin so wie ich bin, besser wär‘, du nimmst das so hin, denn anders wird’s mich nicht geben«. Halt auch nur ein Mensch, der Max.
Am schönsten gelingt ihm diese (Selbst-)Akzeptanz und Umarmung aller Eigen- und Andersartigkeiten im ermächtigungsfrohen Gender-Smasher »Mädchen sind die schönsten Jungs«, einem der besten deutschen Pophits des Jahres. Doch bevor es – im Einklang mit süßesten Konsens-Melodien und tolldreisten Wave- und NDW-Zitaten zu wohlfeil oder »woke« werden könnte, lässt Drangsal den Düsterbub doch wieder von der Leine, etwa wenn er in »Liedrian« den Psychopathen spielt: »Erst wenn die Glock an deinen Gaumen klopft, das Blut dir aus der Nase tropft, ergreift es dich: Du liebst auch mich«, dann fällt ein Schuss. Böse ist auch »Schnuckel«, eine unbehaglich voyeuristische Ode an eine Internetinfluencerin, in der es lustige Reime gibt: »Deine Zähne sind krumm und du bist ein bisschen dumm«.
Aber keine Sorge, alles nur ein Spiel, alles nur ein großer Rummelplatz, auf dem jetzt wirklich alles geht, Spiegelkabinett ebenso wie Geisterbahn. Am Ende sogar Leichtigkeit: »Ich drehe mich ganz schnell, wie ein Karussell, bis mich nichts mehr am Boden hält«, heißt es im wagneresk überschwirrenden und -schnappenden Schlussstück. Ganz großer Pathos-Punk.
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Sagen wir so: Wenn sich Die Ärzte demnächst wegen zunehmender Zopfigkeit auf Altenteil zurückziehen, ist der Popstar Drangsal strategisch gut aufgestellt, um ihre Nachfolge für die jüngere Generation anzutreten. Schafft er ganz allein. (8.5)
Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um 23 Uhr gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte.
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