Es ist das Ende einer schweißtreibenden Schicht, zwei Kollegen unter der Dusche. Während man sich einseift, gleiten bewundernde Blicke den nackten Körper des anderen hinab. Dann fällt eine Seife auf den Boden. Was passiert?
Weil wir in einem Film von Julia Ducournau sind, das hier: Die Kollegen sind junge Frauen, die als Tänzerinnen auf einer Underground-Messe für Autofetischisten ihre leicht bekleideten Körper winden. Als sich die eine nach der Seife beugt, verfangen sich ihre Haare im Brustwarzen-Piercing der anderen. Kurzes, vergebliches Nesteln, dann: rupf!
Wer Ducournaus Debütfilm »Grave« über eine kannibalistisch veranlagte Tiermedizinstudentin vor fünf Jahren halbwegs schadlos überstand (bei einem Screening in Toronto soll es Ohnmächtige gegeben haben), wird sich nicht wundern, wie die Französin in ihrem neuen Film in die expliziten Vollen geht. Trotzdem überrascht sie mit »Titane«, der es nun in den Wettbewerb in Cannes geschafft hat.
Denn wohin sie ihre Fantasie noch treiben wird, ist selbst nach 108 schockierenden Minuten, in denen es zu Sex mit Autos, Morden mit Haarnadeln und Brüsten gefüllt mit Motoröl statt Muttermilch kommt, keinesfalls absehbar. Vielleicht sogar zur Goldenen Palme – wenn denn die Jury um Spike Lee gewillt ist, den fraglos wildesten Film des Jahres auszuzeichnen.
Metall in den Kopf, Kuss aufs Chassis
Mit einem Autounfall aus der Kindheit beginnt die Geschichte von Alexia (als Erwachsene gespielt von Agathe Rousselle, der Entdeckung dieses Festivals). Als Folge des Unfalls kriegt sie eine Metallplatte aus Titan in den Schädel implantiert. Aus dem Krankenhaus entlassen, würdigt Alexia ihre Eltern keines Blickes, sondern läuft auf das Auto zu, in dem sie verunglückt ist. Eine beherzte Umarmung, dann ein Kuss aufs Seitenfenster, und klar ist, dass bei Alexia Nähe und Begehren anders als bei sehr vielen anderen funktionieren.
Aber was heißt »anders« genau? Das weiß Alexia auch mit 30 Jahren, als der Film nach einem großen Zeitsprung wieder ansetzt, noch nicht. Nur dass es für sie keiner dieser Typen ist, der sie für ihre Auftritte auf den Automessen bewundert und ihr seine Liebe gesteht, obwohl sie noch nie miteinander geredet haben – das steht fest. Stoß mit der langen Haarnadel ins Ohr, schmerzhafter Tod, Idiot entsorgt. Ob es Alexia doch mal mit einer Frau versuchen sollte?
Ducournau erzählt in ihren Filmen so explizit und konkret körperlich, dass man vor lauter Sich-im-Kinosessel-winden schnell vergessen kann, wie einfach und, ja, auch empathisch ihre Geschichten eigentlich sind. »Grave« war eine Coming-of-Age-Story, die die erwachenden fleischlichen Gelüste ihrer jungen Protagonistin extrem ernst nahm – nur eben in menschenfleischliche Gelüste übersetzte.
Keine Regeln gelten mehr
»Titane« macht aus dem Erkunden der eigenen Sexualität ebenfalls ein wahnsinniges Gemetzel. Sollte es das Horror-Subgenre des Gender-Gore noch nicht geben, erfindet es Ducournau hiermit. Aber was Alexia erlebt, kann genauso gut auch für eine Generation von jungen Menschen stehen, die sexuelle Identität und Orientierung für sich völlig neu aufschlüsselt und keine Regeln mehr anerkennt. Nur die gespaltenen Schädel erfindet Ducournau dazu, der Rest ist so wahrhaftig, wie es radikal mitfühlendes Kino nur sein kann.
Laura (Seidi Haarla) und Lioha (Yuriy Borisov) in »Compartment No. 6«
Foto: Cannes Film FestivalIst es Zufall, dass die eindrücklichsten Figuren in diesem Cannes-Jahrgang alle nicht heterosexuell sind? Dass die schönste Frauenfigur die Finnin Laura aus Juho Kuosmanens »Compartment No. 6« (Wettbewerb) ist, die sich auf einer Zugfahrt von der schmerzhaft flüchtigen Liebe zu einer Russin lösen muss? Oder dass das berührendste Paar in dem Drama »Große Freiheit« (aus der Nebenreihe »Un certain regard«) vorkommt, das die brutalen Auswirkungen des Paragrafen 175, der Homosexualität in Deutschland fast hundert Jahre lang unter Strafe gestellt hat, auffächert?
Nein, es spricht nur dafür, dass sich das Festival ein bisschen mehr der Gegenwart geöffnet hat. 2021 ist sie sehr blutig – und umwerfend gut.
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