Es gab diesen einen Moment gegen Ende des EM-Endspiels, da schien es tatsächlich, als sei der Fußball drauf und dran, nach Hause zu kommen. Als könnte es England nach 55 Jahren wieder gelingen, ein großes Turnier zu gewinnen. Italiens Andrea Belotti hatte seinen Elfmeter rechts unten platzieren wollen, Jordan Pickford hatte die Ecke geahnt und den Ball abgewehrt. Den nächsten Schuss dann donnerte Harry Maguire mit Selbstbewusstsein in den Winkel. England führte im Elfmeterschießen mit 2:1 gegen Italien.
Es folgte Ernüchterung in Wembley. Marcus Rashford, 23 Jahre alt, Jadon Sancho, 21 Jahre, Bukayo Saka, 19 Jahre: Die englischen Youngster scheiterten der Reihe nach vom Punkt. Rashford und Sancho waren eigens für das Elfmeterschießen eingewechselt worden, Saka Mitte der zweiten Hälfte in die Partie gekommen und von Nationaltrainer Gareth Southgate zum finalen Schützen bestimmt worden. Der sechs Jahre ältere Jack Grealish hatte sich ebenso bereit erklärt, doch Southgate vertraute Saka. »Diese Entscheidung lag ganz bei mir«, erklärte der Coach später.
Geir Jordet kann Southgates Entscheidungen in Teilen nachvollziehen. Jordet ist Psychologieprofessor, er lehrt an der Norwegischen Sporthochschule in Oslo. Fünf Jahre lang hat er die Psychologie der Strafstöße erforscht, untersuchte dabei alle Elfmeterschießen bei Europa- und Weltmeisterschaften sowie in der Champions League seit 1976. Mit einem klaren Befund: »Es gibt keine Datengrundlage für die Annahme, dass junge Spieler oder Ersatzspieler weniger Tore schießen als ältere Spieler oder solche, die das ganze Spiel über gespielt haben«, sagte Jordet dem SPIEGEL. Auf Twitter hatte er zuvor einige seiner Forschungsergebnisse geteilt.
Die Nominierung von Rashford, Sancho und Saka hatte zwar keinen Erfolg gebracht. Der Auswahl der Schützen lagen aber grundsätzlich die richtigen Gedanken zugrunde. »Zum einen spricht vieles dafür, dass Southgate seine besten Elfmeterschützen im Elfmeterschießen eingesetzt hat«, sagt Jordet. Rashford verwandelte 15 seiner letzten 17 Elfmeter, Sancho war mit zehn seiner letzten elf Strafstöße erfolgreich. Sie liegen damit jeweils über dem Durchschnittswert von etwa 76 bis 80 Prozent verwandelter Elfmeter in Europas Topligen. Beide sollen im Training zu den sichersten Elferschützen gezählt haben.
Die richtigen Schützen, (zu) riskant eingesetzt
Zum anderen spreche einiges für die Wahl von Saka: Offensivspieler wie der Youngster vom FC Arsenal haben grundsätzlich eine bessere Quote bei Elfmetern als Abwehrspieler. Das musste Southgate 1996 am eigenen Leib erfahren, als der heutige Trainer der Three Lions als Verteidiger in Wembley zum Elfmeter gegen Deutschland antrat und das Aus der Engländer im EM-Halbfinale besiegelte, weil er an Andreas Köpke im Tor der DFB-Elf scheiterte.
An der Auswahl der Schützen ließe sich anhand der Daten also wenig aussetzen. Wohl aber an Southgates Entscheidung, Rashford und Sancho erst in der Schlussminute der Verlängerung zu bringen. »Das ist meiner Meinung nach ein risikoreicher Schachzug, weil dadurch ein zusätzlicher Druck auf diese Spieler ausgeübt wird«, sagt Jordet. »Auch die Tatsache, dass diese beiden Spieler im gesamten Turnier nicht viel Spielzeit hatten, ist ein weiterer Risikofaktor.« Dabei sei der Druck für die englischen Spieler ohnehin extrem gewesen – zu Hause, im Endspiel, mit Englands Historie im entscheidenden Elfmeterschießen im Hinterkopf.
Was passieren kann, wenn ein Stürmer nur für einen einzigen Schuss auf den Platz geschickt wird, erlebte Finalgegner Italien 2016: Damals schoss der eingewechselte Simone Zaza den Ball im Viertelfinale gegen Deutschland aus elf Metern übers Tor. Diesmal schoss Rashford den Ball an den Pfosten, Sancho scheiterte an Gianluigi Donnarumma, der schon im Halbfinale gegen Spaniens Álvaro Morata pariert hatte. Italien hatte gleich zwei Matchbälle, selbst nach Jorginhos Fehlschuss war England zum Treffen verdammt.
Jadon Sancho scheiterte an Gianluigi Donnarumma
Foto: PAUL ELLIS / AFPSo geriet Saka in eine Situation, die für jeden Schützen schwierig geworden wäre, unabhängig von Vita oder Rolle im Team. Jordets Daten zufolge treffen nur 62 Prozent aller Spieler, wenn ein Fehlschuss die sichere Niederlage bedeutet. Reicht ein Treffer zum sicheren Sieg, sind es 92 Prozent. Wer nachziehen muss, ist klar im Nachteil. Nicht allein Saka brachte die Engländer also um ihre Titelchance – vielmehr waren es die Umstände, in die der Teenager gebracht wurde.
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