Album der Woche:
Bei allem Respekt, und hier ist der groß geschriebene, auf die im Knast tätowierte Brust hämmernde und auf die tonnenschwere Goldkette geschworene R.E.S.P.E.C.T. gemeint: Hip-Hop in seiner aktuellen, im Spätkapitalismus komfortabel etablierten Spielart kann einem gewaltig auf den Keks gehen: Zu viele saturierte Spotify-Streams-Abzocker mit endlos verlaberten und gepimpten Monstertruck-Alben unterwegs! Ein paar Beispiele aus den vergangenen Wochen? Three-6-Mafia-Veteran Juicy J: 29 Tracks, 90 Minuten; Atlanta-Superstars Migos – 34 Tracks, 136 (!) Minuten. COME ON!
Zu solchen künstlich aufgeblasenen Blockbuster-Brocken verhalten sich die Alben, die Vince Staples seit seinem Debüt von 2015 hin und wieder in den Rap-Markt fallen lässt, wie kostbare Arthouse-Perlen. Schon »FM!«, seine bisher beste und popsinnigste Veröffentlichung, war nur 22 Minuten lang, es passten aber trotzdem noch elf prall mit Ideen, Killer-Hooks und wortreichen Lyrics gefüllte Tracks drauf, der großartige G-Funk »Don’t Get Chipped« zum Beispiel oder der Paranoia-Trap »Relay«.
Aber Staples, einst Mitglied der Odd-Future-Crew, aus der neben Frank Ocean und Earl Sweatshirt auch Tyler, the Creator hervorging, wäre nicht der Idiosynkrat, der er ist, wenn er nicht schon wieder alles anders machen würde. Mit »FM!« war zum Thema Hitmaschine alles gesagt, kurz und knapp. Jetzt, für sein viertes Album, hat sich der 28-Jährige wieder nur 22 Minuten Zeit genommen, allerdings für zehn extrem reduzierte Tracks, deren Charme und Ohrwurmhaftigkeit sich erst allmählich entfaltet. Kommerzieller Selbstmord?
Staples sagte einmal, sein Ziel sei es, auf gar keinen Fall eine Diamant-Auszeichnung von der Industrie zu bekommen (in den USA: Trophäe für zehn Millionen verkaufte Tonträger). Wenn man sich als erfolgreicher Rapper unter diesem Superstar-Radar aufhalte, sei man wenigstens in der Lage, ein normales Leben zu führen.
Das ist bemerkenswert für den Künstler eines Genres, in dem es jahrzehntelang und auch heute noch fast immer um den Aufstieg aus Gettoruinen und Kriminalität zu Reichtum, Statussymbolen und Luxusinsignien ging. »Fuck a mansion«, heißt es an einer Stelle auf seinem neuen Album: Er braucht keine Villa und keinen Lambo. Aber dafür die künstlerische Freiheit, machen zu können, was er will – so wie der junge Motown-Star Stevie Wonder 1972 mit seinem Emanzipationsalbum »Music of My Mind« – dessen Karriere erst danach in ihre definierende Phase eintrat. Inzwischen veröffentlicht auch Staples seine Musik bei dem schwarzen Traditionslabel.
»Vince Staples«, der Titel verrät, dass es hier persönlich wird, zwingt das von Reizüberfrachtung zu minimaler Aufmerksamkeitsspanne verdammte Hip-Hop-Publikum – nur ganz kurz! – zum Zuhören. Es geht tief hinein in die triste Jugend als schwarzes Kind am weißen Strand des populären Badeorts Long Beach in Los Angeles, »I’m a real beach boy«, schnaubt er verächtlich in »Are You With That?«.
Beschrieben, mit zahlreichen jener grandiosen Reime und One-Liner, denen Staples seinen Ruf als einer der besten Rapper der Szene verdankt, wird hier gerade kein exzeptionelles Aufwachsen, sondern ein Alltag voller Misstrauen und Todesangst, in dem eine zu auffällige Gucci-Tasche schon Ärger bedeuten kann (»Law of Averages«): Mit so viel Gepäck läuft man nicht unbeschwert durch das Strandparadies, da läuft’s einem auch in der prallen Sonne eiskalt den Rücken (oder die Badehose) runter.
»Watch your back« und »Don’t get shot« sind Sätze, die hängenbleiben in dieser melancholischen Erzählung adoleszenter Black Experience: Irgendein Bulle oder Bully, irgendeine »bad bitch« will einem immer ans Leder. Oder an die Gurgel.
Der Höhepunkt, veredelt mit dem hinreißenden Gesang von R&B-Newcomerin Foushée, kommt erst an siebter Stelle des Albums, aber wer sich bis dahin in Staples' immersiven Trip auf der Memory Lane, seine eleganten Neunzigerjahre-Rap-Verweise, seinen beiläufig packenden Flow versenkt hat, wird mit einem funkelnden Schatz belohnt: »I’m the only one who made it out / You remember me?«, rappt er im sehnsüchtigen »Take Me Home«: Da ist er dann doch noch, der Hit, natürlich kaum zweieinhalb Minuten lang. Reicht! Einsamer Rapper, einsame Klasse. (8.4)
Kurz Abgehört:
Koreless – »Agor«
Die Älteren werden sich an einen legendären Abend im Berghain vor sechs Jahren erinnern, als der walisische Klang-Perfektionist Lewis Roberts alias Koreless als Support von SOPHIE auftrat – und der inzwischen leider verstorbenen Elektronik-Pop-Avantgardistin musikalisch beinahe die Show stahl. An die damals neuen und aufregenden, mit Splittersounds und polymorphen Gesangssamples rhythmisierten Hypno-Tracks »TT« und »LOVE« reichen auf seinem späten, allzu naturmystisch geratenen Debütalbum nun leider nur tolle House-Experimente wie »Joy Squad« und »Shellshock« heran. Man spürt, dass Roberts, genau wie wir alle, sehr lange nicht zum Tanzen im Klub war, sondern allein im stillen Kämmerlein hockte. Fair enough. (7.8)
Die Liga der gewöhnlichen Gentlemen – »Gschichterln aus dem Park Café«
Bevor jetzt wieder jemand im Leserforum gereizt »Was soll DAS denn!?« fragt, gibt die Gentlemen-Liga aus Hamburg auf ihrem neuen Album gleich mal die einzig vernünftige Losung für diesen Sommer der vorübergehenden Entspannung aus: »Es ist nett, nett zu sein, ohne was zu wollen«. Die Band um Sänger Carsten Friedrich hat sich im räudigen Retro-Ska und -Soulpop (und im Park Café in Altona) inzwischen sehr gut eingeríchtet und prostet ihrem eingeschworenen Publikum mit listig-launigen Schlagern für notorische City-Slacker zu (»Ferien für immer!«). Ballermann-Hits für die Indie-Szene. (7.5)
Eliza Shaddad – »The Woman You Want« (ab 16. Juli)
Nach Monaten nur mit Ehemann und Liveband in einem engen Home-Studio in Cornwall eingepfercht: Da hätte auch Explosiveres rauskommen können als diese melodische, schön altmodische Indiepop-Platte, das zweite Album der schottisch-sudanesischen Sängerin und Songwriterin Eliza Shaddad: »Heaven« klingt nach Radioheads »High And Dry«, »Fine & Preachy« nach Sheryl Crow, die herzbrechende Hymne »Now You’re Alone« an Powerballadenbombast von Heart, aber die studierte Philosophin und Jazzmusikerin fand im Lockdown mit sanften Beats und Afro-Folk-Elementen (»Waiting Game«) auch ihren ganz eigenen, radiotauglichen Emocore-Sound. (7.3)
The Goon Sax – »Mirror II«
Das im Titel insinuierte Vorgängeralbum »Mirror I« gibt es nicht, die Geschichte dazu ist kompliziert und ein bisschen chaotisch – so wie diese sympathische Indie-Band aus Brisbane, deren Bassist der Sohn des Go-Betweens-Gründers Robert Forster ist (halt sehr übersichtlich die Szene in Australien). Den windschiefen Awkward-Rock, irgendwo zwischen Shoegaze, Twee-Pop, Jonathan Richman und Psychic TV, erfindet das Trio auch auf seinem dritten Album nicht neu, dank Starproduzent John Parish (P.J. Harvey) und Label-Legende Matador gibt’s aber satteren Sound und ordentlich Hype in der Musikfachpresse. Macht fast nostalgisch. Aber nur fast. (6.5)
Liebe Leserinnen und Leser, auch »Abgehört« braucht mal Urlaub: Die Kolumne verabschiedet sich für zwei Wochen in die Sommerpause! Die nächste Ausgabe lesen Sie am 30. Juli.
Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um 23 Uhr gibt es beim Hamburger Web-Radio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte.
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