Sami Khedira hat einmal erzählt, was das Geheimnis einer erfolgreichen Fußballmannschaft ist: »Am Ende kommt es auf eine Sache an: Hat der Trainer wirklich eine Verbindung zu seinem Team?« fasste Khedira das in einem Interview mit dem US-Portal »The Athletic« zusammen. Dieser Trainer brauche dafür »Menschlichkeit und natürliche Autorität«.
Spielidee, Philosophie? All das komme erst danach.
Zweite wichtige Zutat für den Erfolg laut Khedira: »Es ist nicht genug, Spieler zu haben, die schnell rennen und hart schießen. Es braucht auch Jungs mit Erfahrung, die anderen durch ihre Präsenz und Persönlichkeit helfen, Leistung zu bringen.«
Khedira hat in so manchen erfolgreichen Fußballmannschaften gespielt: beim VfB Stuttgart, mit dem er 2007 Deutscher Meister wurde, bei Real Madrid (Meister, Pokalsieger, Champions-League-Sieger), Juventus Turin (unter anderem fünf Meisterschaften) und in der deutschen Nationalelf, mit der er 2014 den Weltmeistertitel holte. Er hat Trainer erlebt, denen man mindestens eine natürliche Autorität attestiert, und er hatte Mitspieler an seiner Seite, die sowohl schnell rennen und hart schießen konnten, aber auch noch Präsenz und Persönlichkeit mitbrachten (mit Cristiano Ronaldo spielte Khedira sogar in zwei verschiedenen Klubs zusammen).
Von all dem wird der mittlerweile 33 Jahre alte Mittelfeldspieler bei seinem neuen Klub wenig antreffen. Khedira ist am Montag zu Hertha BSC gewechselt.
Es ist schon ein kurioser Lauf der Dinge, dass einer der erfolgreichsten Spieler der jüngeren deutschen Fußballgeschichte nun bei einem der aktuell erfolglosesten Teams der Bundesliga anheuert. Das hat vornehmlich zwei Gründe:
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Khedira ist nicht mehr der Spieler, der er einmal war.
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Hertha will nicht mehr die Mannschaft sein, die sie derzeit ist. Sie braucht die Werte, die Khedira bisher verkörpert hat.
Arne Friedrich ist seit etwas mehr als einer Woche der leitende Angestellte in sportlichen Fragen bei Hertha. Nach dem Rauswurf des langjährigen Hertha-Managers Michael Preetz hat sich der Jobanfänger Friedrich erst dafür eingesetzt, dass Pál Dárdai als Trainer zurückkehrt. Und nun geht die Verpflichtung Khediras auch auf die Initiative Friedrichs zurück. Beide spielten zwischen 2009 und 2011 zusammen in der Nationalelf. In dieser Zeit hat Friedrich erlebt, welch verbindende Kräfte schon der junge Khedira besaß.
Führen durch Vorführen
»Er hat durch sein Auftreten geführt – nicht unbedingt mit großen Worten. Aber er war hochkorrekt, immer pünktlich, immer voller Einsatz, und er hat die Schuld nie bei anderen gesucht«, sagt ein DFB-Mitarbeiter, der Khedira lange Jahre in der Nationalelf erlebt hat: »Das war Sami.«
Führen durch Vorführen, das sei Khediras Stil gewesen. Und das gehe nur mit zwei Dingen: natürlicher Autorität und Leistung.
Khedira, so ist es bei Hertha zu hören, soll in Berlin eine Schlüsselrolle zukommen. Er soll einen Kader kitten, der zwar durchaus über individuelle Klasse verfügt, aber kaum über Führungskräfte.
Preetz hatte im vergangenen Sommer übersehen, dass er mit Vedad Ibišević, Salomon Kalou, Per Skjelbred und Thomas Kraft nicht nur zwei Stürmer, einen Mittelfeldspieler und einen Torwart ausgemustert hatte, sondern auch fast die gesamte gewachsene Führungsriege des Teams. Khedira soll diese Unausgewogenheit des Kaders beheben. Sein Vertrag bei Juventus wurde aufgelöst. Bei Hertha erhält er einen Kontrakt bis Saisonende. Er soll mithelfen, dass die mit mehr als 100 Millionen Euro aufgemotzte Berliner Mannschaft, die aktuell bei Punktgleichheit nur noch sieben Tore Vorsprung auf die Abstiegszone hat, nicht die größte Bruchlandung im deutschen Fußball hinlegt seit dem Vorrunden-Aus der DFB-Auswahl bei der WM 2018. Khedira wird sich erinnern, er war dabei.
Die Frage ist nur, ob Sami Khedira dieser komplizierten Aufgabe noch gewachsen ist. Denn im Moment ist er ein Anführer auf Papier.
In den vergangenen 14 Monaten hat Khedira exakt 28 Minuten professionellen Fußball gespielt. Nachdem er Ende November 2019 bei Turins Partie gegen Bergamo ausgewechselt wurde, kam er nur noch ein einziges Mal zum Einsatz: Im Juni 2020 im italienischen Pokal durfte er eine knappe halbe Stunde mitwirken.
Verletzungen hatten ihn in seiner Karriere oft zurückgeworfen. Im Februar 2019 kam eine Herzrhythmusstörung dazu. Von Andrea Pirlo, Turins neuem Trainer, wurde Khedira zuletzt gar nicht mehr berücksichtigt, an Spielern wie dem Franzosen Adrien Rabiot, dem Brasilianer Arthur und Rodrigo Betancur aus Uruguay kam er nicht mehr vorbei. Nach fünf Meistertiteln in Folge mit Juventus und dem Erreichen des Champions-League-Finales 2017 war Khedira zu einem besseren Trainingspartner degradiert, aber er beschwerte sich nie öffentlich: »Ich sehe mich als eine Art Mentor für die jungen Spieler«, sagte Khedira Ende 2020 über seine Situation bei Juventus.
Irgendwann nur noch ein gewöhnlicher Spieler
Bei Hertha haben sie den Gesundheitszustand Khediras intensiv gecheckt. Alle Ergebnisse sollen einwandfrei gewesen sein. In der Kabine, diesem mythischen Ort, an dem sich offenbar Erfolg und Misserfolg eines Teams entscheidet, wird Khedira eine Bereicherung sein. Davon sind sie bei Hertha überzeugt. Aber die Frage ist, ob er auch sportlich noch Führen durch Vorführen kann.
Auf Khediras Position im zentralen Mittelfeld sind heute Spieler gefragt wie Leon Goretzka oder Joshua Kimmich, die vorn Tore schießen oder vorbereiten und hinten welche verhindern. Kurzum: junge Khediras. Zu seinen besten Zeiten zeichnete Khedira diese seltene Mischung aus aufbrausender Dynamik und defensiver Disziplin aus. Immer wenn Khedira den Ball erobert hatte, ging es direkt nach vorn. Mit Sprints in den Strafraum riss er Löcher in gegnerische Defensiven, er war wie ein wildes Pferd, selten ging ihm die Luft aus.
Aber je älter Khedira wurde und je öfter er Verletzungen erlitt, desto weniger zeigte sich noch diese Wucht. Er verlegte sich auf Ballkontrolle, auf Übersicht. Erst wurde er immer mehr zu einem gewöhnlichen Spieler und dann, bei der WM 2018, wirkte er gar aus der Zeit gefallen, als er sich von den angriffslustigen Mexikanern im ersten WM-Spiel 2018 überrumpeln ließ.
Zwei gegen den eigenen Abstieg
Wenn es stimmt, was man hört, dass sie in Berlin eine charakterlich nicht ganz einfache Mannschaft beisammen haben, dann wird es interessant zu sehen sein, inwiefern Khedira auch dann als Anführer akzeptiert wird, wenn er nicht mit Leistung überzeugt.
Dass Khedira auch nach dem WM-Aus nie Aufsehen um sich machte, auch nicht, als ihn Bundestrainer Joachim Löw leise ausmusterte, sehen sie beim DFB noch heute als Zeichen menschlicher Größe. Khedira sah die Schuld eher bei sich: »Meine persönliche Leistung ist mir auch heute noch unerklärlich«, sagte er nach der Blamage von Russland. Für Hertha könnte diese gesunde Selbsteinschätzung schon ein Wert an sich sein.
Eigentlich wäre Sami Khedira gern nach England gewechselt, »die Premier League fehlt noch in meiner Sammlung«, sagte er. Nun ist es nur Berlin geworden. Aber irgendwie passt das auch ganz gut: Hier kämpfen dann zwei gegen den eigenen Abstieg.
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