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Neukölln bangt mit - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Rekord ist Rekord, wie trübselig er auch sein mag. Um den zu verteidigen, versammelte sich am Samstag ein Berliner Stadtteil hinter dem FC Schalke 04. Die Touristeninformation Neukölln schrieb in Richtung der Gelsenkirchner Fußballprofis: „Wir drücken die Daumen – wir halten den Rekord!!!“ In der gleichen Absicht zogen Anhänger des SV Tasmania trotz widriger Wetterbedingungen einmal quer durch Berlin zum Olympiastadion, wo sie Schilder hochhielten, auf denen stand „Rettet TAS den Rekord“ oder „Schalke, gib Dir gefälligst Mühe! Wenigstens Hertha solltest Du doch schlagen können!!!“

Dem war nicht so, aller Unterstützung zum Trotz. Auch gegen die bisher hinter den eigenen Erwartungen zurückgebliebenen Berliner von Hertha BSC ging Schalke unter, mit dem 0:3 war der Tabellenletzte noch gut bedient. Gewinnt Schalke am kommenden Samstag das Heimspiel gegen die TSG Hoffenheim nicht, würde das die Einstellung des Negativrekords von Tasmania bedeuten. Die waren in der Saison 1965/66 31 Spiele, allerdings innerhalb einer Saison, nacheinander ohne Sieg geblieben. In Neukölln, wo der Nachfolgeverein jener Tasmania beheimatet ist, wird weiter gezittert.

Schalkes Serie erstreckt sich nun schon über zwei Spielzeiten und zwei Kalenderjahre, was die Angelegenheit noch schlimmer macht. Der letzte Sieg gelang am 17. Januar 2020. Damals gewann Schalke 2:0 gegen Gladbach und stand auf Platz fünf. Dann folgte ein Niedergang, der seinesgleichen sucht. Möglichkeiten, den Trend zu stoppen, gab es genug, aber bei der Einkaufs- und Personalpolitik zeigten sich die Schalker Verantwortlichen zuletzt so erfolglos wie die Spieler bei dem Versuch, ein Tor zu erzielen.

In Person von Christian Gross stand gegen Hertha der vierte Cheftrainer in den vergangenen zwölf Monaten an der Seitenlinie. Nach dem Schlusspfiff hatte er mit seinen Vorgängern David Wagner, Manuel Baum und Huub Stevens gleich mehr gemein, als ihm lieb sein konnte. Zerknirscht musste Gross die hochverdiente Niederlage eingestehen und sich in Durchhalteparolen üben: „Wir müssen unbedingt schauen, dass wir vor dem Tor konsequenter sind, und brauchen mehr Torgefahr“, sagte der Schweizer. Damit sprach Gross nur einen Teil der Unzulänglichkeiten an. Er hätte auch über das eklatante Abwehrverhalten in der zweiten Halbzeit reden können oder über die Ideenlosigkeit im Aufbauspiel.

Trotz einer guten Anfangsphase war seine Mannschaft nach dem ersten Gegentor durch Mattéo Guendouzi komplett eingebrochen. Gross musste von außen hilflos mit ansehen, wie ihm das Team und dem Team das Spiel entglitt. Sollte Sportchef Jochen Schneider auf einen psychologischen Effekt durch den jüngsten Trainerwechsel gehofft haben, so wurde er in Berlin enttäuscht. Selbst die gängigen Mechanismen des Geschäfts verpuffen bei dem Versuch, Schalke auf Kurs zu bringen.

Gross hatte einiges verändert, er beorderte den langjährigen Kapitän Ralf Fährmann anstelle von Frederik Rønnow zurück ins Tor, er versuchte, mit zwei Viererketten die Räume in der eigenen Hälfte eng zu machen, und er bot den 19 Jahre jungen Matthew Hoppe aus der zweiten Mannschaft im Angriff auf. Doch am Ende verfielen seine Spieler in die Verhaltensmuster der Vormonate – egal, wer ihnen auch immer von der Seitenlinie aus Anweisungen gegeben hatte. Da waren die beängstigenden Selbstzweifel nach dem ersten Gegentor, die Mutlosigkeit, die Angst vor weiteren Fehlern. Nichts an dieser Mannschaft wirkte von der 30. Minute an lebendig, Schalke glich einem leckgeschlagenen Tanker, auf dem niemand mehr daran glaubt, noch einmal seetauglich werden zu können.

Mark Uth bestätigte das direkt nach Spielschluss, indem er unverzüglich Verstärkung forderte. „Die Verantwortlichen müssen auf dem Transfermarkt tätig werden. Wir brauchen Spieler, die uns jetzt sofort weiterhelfen. Wenn wir so spielen wie in der zweiten Halbzeit, dann sind wir nicht wettbewerbsfähig“, sagte Uth. Der Stürmer hätte dem Geschehen eine andere Richtung geben können, nach rund einer halben Stunde vergab er die bis dahin beste Gelegenheit zur Schalker Führung. Kurz darauf ging Hertha in Führung, und Gross blieb nur die Rolle des Kapitäns, der vergeblich nach dem Kompass sucht.

Ein deprimierenderes Debüt hat er in seiner langen Trainerkarriere wohl selten erlebt. Die Hoffnung auf personelle Hilfe ist vage, auch wenn Schalkes Führung immer wieder betont, auf dem Transfermarkt aktiv werden zu wollen. Der Verein steckt in einer höchst prekären Lage, die durch die Corona-Pandemie verursachten Einbußen haben ihn stark getroffen. Im Sommer bewilligte das Land Nordrhein-Westfalen eine Bürgschaft, ohne die es schwer geworden wäre, den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten. Das Geschäftsjahr 2019 schlossen die Schalker mit einem Defizit von 197 Millionen Euro ab. Geld für Verstärkungen ist nicht vorhanden, erst recht nicht für Spieler jenes Kalibers, wie sie Uth fordert. Solche Profis haben ihren Preis, vor allem im Winter, wenn der Markt als überteuert gilt. Um liquide sein zu können, stellte Schneider eventuelle Hilfe des ehemaligen Aufsichtsratschefs Clemens Tönnies in Sicht. „Das werden wir intern diskutieren“, sagte er dem Fernsehsender Sky.

Wie im Fall von Trainer Gross, dessen letzte Stationen im arabischen Raum waren, muss Sportchef Schneider auf Personal setzen, das in Vergessenheit geraten ist. Als einziger Zugang steht bisher nur Sead Kolašinac fest. Der Bosnier hatte bis 2017 für Schalke gespielt, ehe es ihn zum FC Arsenal zog, von wo er nun auf Leihbasis zurückkehrt. In London wurde er zuletzt nicht mehr eingesetzt. Trotzdem, Kolašinac sei „ein erster, guter Schritt“, sagte Uth.

Charakterlich fällt der neue Alte in jene Kategorie Zugang, die auch Trainer Gross fordert. „Ich hoffe, dass wir noch den ein oder anderen Spieler mit einer starken Persönlichkeit bekommen“, sagte der Schweizer, was gleichzeitig tief blicken ließ. Querelen, die zu Suspendierungen oder gar Freistellungen führten, sind ebenfalls Gründe der sportlichen Misere. Immer stärker rückt dabei Sportchef Schneider in den Mittelpunkt, der in personellen Fragen oft danebenlag. Sollte auch Gross sich als Fehlgriff erweisen, wäre Schneider nicht mehr im Amt zu halten. „Ja, das ist klar. Da brauchen wir auch nicht um den heißen Brei herumreden“, sagte Schneider.

Noch bleiben Gross und der Mannschaft 20 Spiele, um den ersten Abstieg seit 1988 zu verhindern. Trotz der anhaltenden Erfolglosigkeit beträgt der Rückstand auf den Relegationsplatz nur sechs Punkte. Um den zu erreichen, müsste aber so schnell wie möglich wieder gewonnen werden. Das würde auch in Berlin so manchen freuen. Zumindest im Stadtteil Neukölln.

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