Die Pandemie zwingt Deutschland, das Land der Ingenieure und der Industrie, in den Lockdown. Kaum eine andere Volkswirtschaft weltweit verfügt über mehr Wissen und Erfahrung, wenn es um moderne Technologie geht. Die lange Liste technischer Erfindungen deutscher Herkunft ist Legende.
Das Engineering, also das Planen und Steuern komplexer Abläufe, die Glied für Glied ineinandergreifen und so zu perfekt organisierten Wertschöpfungsketten werden, gehört in der hiesigen Industrie zur DNA.
Auch deshalb haben wenige andere Gesellschaften derart von der industriellen Globalisierung profitiert wie die deutsche. „Made in Germany“ und „Vorsprung durch Technik“ sind Gütesiegel, die den Standard setzen für höchste Qualität, feinste Präzision und beste Organisation.
Die technischen Voraussetzungen, um Zukunftsfragen mit technologischen Fortschritten zu beantworten, sind somit in Deutschland ohne jede Diskussion gegeben – besser wohl als sonst wo. In dramatischer Weise jedoch mangelt es hierzulande am politischen Willen und an der gesellschaftlichen Akzeptanz, bei der Bewältigung existenzieller Herausforderungen auf Innovation zu setzen.
Das hat sich in der Energiepolitik gezeigt, desgleichen in der Umwelt- und Klimapolitik und ebenso bei der Gentechnologie und nun eben auch bei der Bekämpfung von Covid-19. Statt technischen Neuerungen Vorgaben zu machen, wie sie moralischen Bedenken, ethischen Vorbehalten, kulturellen und gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung zu tragen haben, werden sie in Deutschland verboten – so wie es bei der Kernenergie oder der Genforschung der Fall ist.
Die Technikfeindlichkeit ist tragisch
Oder aber es wird eine Corona-Warn-App propagiert, die vor Datenklau, nicht jedoch vor Covid-19 schützt. Umwelt- und Klimapolitik, Gen- und Corona-Politik strotzen vor Fesseln, die eine rasche, flächendeckende Verbreitung neuer Techniken im Zaume halten sollen.
Die Technikfeindlichkeit ist deshalb so tragisch, weil in der Absicht Ingenieure und deren Kritiker weit näher beieinanderliegen, als es wütende Demonstranten bei lautstarken Protestmärschen gegen Atomkraft, Kohlekraftwerke oder Gentechnologie wahrhaben wollen.
Keine ernst zu nehmende Stimme ist aus der deutschen Wirtschaft zu hören, die nicht das Ziel teilt, dass Erderwärmung und Umweltverschmutzung, Artensterben und Abholzung von Regenwäldern so rasch und so nachhaltig wie irgendwie möglich zu verhindern und zu stoppen sind.
Genauso unstrittig wird die Ansicht vertreten, dass mit der Gentechnologie neben vielen Chancen eine Menge von Risiken einhergeht, die zu minimieren oder auszuschließen sind.
Fundamental jedoch unterscheiden sich die Meinungen bei der Frage, welche Rolle Technik im Kampf gegen den Klimawandel und für eine lebenswerte Umwelt zukommen soll. Die einen behaupten, dass moderne Technologien – von Kraftwerken bis Verbrennungsmotoren – die Ursache aller ökologischen Probleme seien.
Technik und Technologie zum Wohle der Gesellschaft nutzen
Deshalb sehen sie in Verboten die Lösung. Die andern können überzeugend zwar belegen, dass historisch stets Innovationen der Motor der wirtschaftlichen und damit auch der gesellschaftlichen Entwicklung waren.
Sie haben mehr als alles andere – also politische Ideologien oder religiöse Dogmen – dafür gesorgt, dass es der Menschheit heute besser geht und die Lebenserwartung für Neugeborene in allen Gesellschaften höher liegt als jemals zuvor. Aber die Anhänger des technischen Fortschritts dringen politisch nicht durch.
Wir wissen so unendlich viel und tun so unfassbar wenig, um Technik und Technologie zum Wohle der Gesellschaft zu nutzen. Stattdessen blockieren Verbote und Einschränkungen, soweit das Auge reicht, die Sicht der Dinge. Als würden Verbote nachhaltige Lösungen darstellen. Das Gegenteil ist der Fall.
Verbote kaufen bestenfalls Zeit, bringen aber keine entscheidenden Korrekturen nach vorne in eine bessere Welt. Im schlechteren Fall jedoch verzögern oder verhindern Verbote und Technikfeindlichkeit Innovation, die Problemursachen und nicht nur deren Symptome bekämpft.
Wirklich nachhaltige, tragfähige Lösungen, die Klima und Umwelt retten, das Leben der Menschen verbessern und Menschenleben verlängern, kommen dann verspätet oder gar zu spät.
Negative Folgen von Verboten erst spät spürbar
Wie brutal sich eine Konzentration auf Verbote statt Innovation für eine Gesellschaft rächen kann, zeigt sich bei Covid-19 und dessen Bekämpfung. Seit Ausbruch der Pandemie dominiert die defensive Strategie der Eindämmung.
Mit Kontaktsperren, sozialer Isolierung und einem Herunterfahren der Wirtschaft, jeweils abgelöst von vereinzelten Lockerungen, will man sich von der ersten zur zweiten und schließlich wohl zur Dauerwelle weiterhangeln, bis eines fernen Tages dank Impfstoffen eine Herdenimmunität erreicht werde.
Wie die Verhaltensökonomik lehrt, darf nicht überraschen, dass die Politik dabei lieber zu viel als zu wenig verbietet und vorschreibt. Gerade in einem Bundestagswahljahr scheint in einer demografisch alternden Gesellschaft eine starke politische Faust mehr zu zählen als die unsichtbaren Hände kommender Generationen.
Verbote und Verordnungen wirken vergleichsweise rasch – und deren negative Folgen machen sich erst später bemerkbar. Sie sollen bundesweit gelten, losgelöst von individuell durchaus stark unterschiedlichen Risiken. Eine Gleichbehandlung halten viele für gerecht, obwohl es der Logik von Zielgenauigkeit und Effizienz widerspricht, die an sich verlangt, Ungleiches auch ungleich zu behandeln.
Sprachlos macht dabei, dass sich die Bundespolitik mit Zustimmung der Länder an einigen Stellen das Recht zum Verbot nimmt, dann jedoch Kommunen und Länder zwingt, die Folgen zu tragen – etwa wenn die Schulen „oder was auch immer“ geschlossen werden.
Wechselspiel von Lockdown und Lockerung
Eine offensive, auf Technik und Technologie ausgerichtete Pandemiepolitik hätte vom ersten Tag des Ausbruchs an auf Innovation gesetzt. Eindämmung oder Ausrottung wären zwar auch auf der Agenda zu finden gewesen – aber nicht zualleroberst.
Dort hätte nämlich von allem Anfang an die Anpassung an ein Leben mit dem Virus, der Schutz der besonders Gefährdeten und die Suche nach Impfstoffen zur (Herden-)Immunisierung und nach Medikamenten zur Eindämmung der Krankheitsfolgen gestanden.
Regelmäßiges Screening des Pflegepersonals, schnellere Massentests und wirksamere Atemschutzmasken für Risikopersonen gehörten ebenso dazu. Stattdessen hat man in der deutschen Politik vorrangig auf die durchschlagende Wirkung eines Wechselspiels von Lockdown und Lockerung – also Verbote und deren Verschärfung oder Aufhebung – gesetzt, was sich spätestens jetzt als folgenschwerer Irrtum erwiesen hat.
Eine offensive Pandemiepolitik hätte von Beginn weg mit intelligenter Informations- und Kommunikationstechnologie Infektionsdaten erhoben, gesammelt und ausgewertet, um möglichst rasch möglichst viel über Covid-19, seine Charakteristika, Verbreitung und Wirkungen zu wissen.
Etwas Klügeres als Verbote
Sie hätte modernste Technik in der Kontaktverfolgung eingesetzt und Apps programmieren lassen, die in Echtzeit und überall eine Nach- und Rückverfolgung von Kontakten und Infektionsübertragungen ermöglichen. Sie hätte berechtigte Sorgen der Datensicherheit aktiv aufgegriffen, bereinigt und mit allen Mitteln, die ein Rechtsstaat hat, den Missbrauch persönlicher Daten bekämpft.
Sie hätte geprüft, wie sich bestehende Informations- und Kommunikationssysteme öffentlicher (Sicherheits-)Einrichtungen nutzen ließen, um persönliche Daten für befristete Zeiträume rasch und sicher erfassen, vernetzen und im Kampf gegen Covid-19 sinnvoll verwenden zu können.
Sie hätte vom ersten Tag an alles dafür getan, dass zugelassene Impfstoffe ohne jede weitere Verzögerung flächendeckend zum Einsatz gelangen. Stattdessen hat man eine App in Umlauf gebracht, die nicht annähernd hält, was zu erfüllen wäre. Und – schlimmer noch – es geht viel zu viel Zeit verloren, bis wohl erst in Wochen mit der Massenimpfung (mit einem an sich bereits lange zugelassenen Impfstoff) begonnen wird.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Lage ist in der Tat ernst und traurig. Aber es ist nie – auch jetzt noch nicht – zu spät, die Strategie zu ändern. Verbote, Lockdown und Isolierung mögen momentan kurzfristig in der Tat die beste aller schlechten Alternativen sein.
Sie bieten aber niemals eine längerfristige oder gar nachhaltige Lösung. Es muss Gesellschaft und Politik etwas Klügeres einfallen als Verbote. Das gilt im Übrigen auch für organisatorische Neuerungen alltäglicher Abläufe zum Schutz von Risikopersonen – etwa spezielle Bus-, Tram- oder Bahnwagenabteile, Einkaufszeiten, Friseurtermine oder einen Lieferservice für Ältere.
Gleicher Zeitdruck bei Klima- und Umweltpolitik
Wer sonst als Deutschland kann so effizient und effektiv mit Technik und Innovation auf existenzielle Krisen antworten? Es gibt keinen Grund und keine Rechtfertigung, ab morgen nicht mit aller Kraft neue Technologien zu nutzen, um damit einen Vorsprung durch Technik zu erzielen.
Damit könnten wir auch schneller als das Virus und seine Verbreitung werden oder rascher als bisher die Erderwärmung verlangsamen oder dank gentechnologischer Fortschritte bessere Medikamente oder schädlingsresistentere Pflanzen finden.
Niemand wird verstehen, dass jetzt nicht alles Menschenmögliche getan wird, um mit moderner Technologie für jede einzelne Minute zu kämpfen, die beim Impfbeginn gewonnen werden kann. Der gleiche Zeitdruck spricht auch in der Klima- und Umweltpolitik oder dem Anbau ertragsstärkeren Saatgutes für einen raschen Strategiewechsel weg von Verboten – hin zu Innovation.
Nur wenn wir jetzt und heute beginnen, auf Technik und Technologie statt Verbote zu setzen, haben wir überzeugende Antworten anzubieten, wenn kommende Generationen uns fragen, was wir für deren lebenswerte Zukunft getan haben.
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