Ernüchterndes
In Beethovens angeblichem Bonner Geburtszimmer steht keine Gipsbüste mit Lorbeerkranz mehr. Stattdessen eine zeitgenössische, technisch raffinierte Neoninstallation. In diesem von Corona beinahe verhinderten Beethoven-Jahr, ohne allzu viel live gespielter Beethoven-Musik, ist die längst historisch gewordene Figur angenehm auf Augenhöhe geschrumpft. Weggefegt scheint der Titan, der Revoluzzer, der Reformator, der Wüterich, der Eigenbrödler. Beethoven ist endgültig im 21. Jahrhundert angekommen. Er ist modernisiert worden, aber das war gar nicht so schwer. Und trotzdem hat er seine Größe und Singularität behalten. Neben Kant, Goethe, Bach und Wagner bleibt er eine der Landmarken der geistigen Nation der Deutschen. An der man sich künftig viel besser reiben oder messen mag. Oder die man einfach nur lieben kann.
Überflüssiges
Ganz ist es wohl noch nicht weg. Das allerschlimmste aller schlimmen Jubiläumslogos: „BTHVN2020“. Diese – ausgerechnet bei einem Musiker – vokallos verstolperte Marketing-Abirrung. Samt ihrer überquellenden Termin- und Aktionsagenda. Denn das 250. Geburtsjahr, vor dessen geldsattem Überaktivismus uns Corona einigermaßen bewahrt hat, es wird leider 2021 zumindest mit gebremster Kraft noch ein wenig weiterlaufen. Antragssteller müssen schließlich ihre Etatposten abarbeiten. Schon heute, am einzig sicher dingsfest zu machenden Tauftag, ploppt da online schon wieder viel zu viel Wichtigtuerisches auf (inklusive Live-Übertragung des ökumenischen Gottesdienstes vor dem Taufstein). Wir aber können uns gewiss sein: Beethoven kommt auch ohne jeden Schmus zu uns. Er ist nah-, vor allem ist er hörbar. Einfach so. Egal, ob mit einem Deutschen Tanz oder der komplizierten letzten Klaviersonate. Man muss nur wollen.
Übergroßes
Auch wenn sie pandemiebedingt nicht oft (Chöre und Aerosole!) zu hören war: Die Missa Solemnis, gerne weggeschoben, als nicht nur Soprane killender Größenwahn zum Lobe des (aber welches eigentlich?) Herren, sie erfuhr eine neue, gerechtere Einordung. Der kluge Jan Assmann widmete ihr ein noch klügeres Buch: „Kult und Kunst. Beethovens Missa Solemnis als Gottesdienst“ (C. H. Beck, 272 Seiten, 28 Euro). Da dürfen wir, ein wenig widerständig zum Zeitgeist, wieder glauben, auch wenn der Komponist selbst zeitlebens mit diversen Theismen schwanger ging. Während die Musikwissenschaft das Monsterwerk gern als artistisch geformte Erkenntnis von Bedingungen ansieht, von denen sich die Menschheit und selbst Beethoven nicht frei machen konnte, ist Assmann von der Metaphysik der reinen Musik nicht wirklich überzeugt. Covid-19 warf uns auf das wiederholte Zuhören im stillen Kämmerlein zurück. Dabei konnte man sich einer gewissen spirituellen Tröstung nicht verschließen. „Er hat die Überforderung förmlich hineinkomponiert, hoffte, dass spätere Generationen sie realisieren können“, sagt Riccardo Muti, der die Missa zu seinem 80. Geburtstag im kommenden Jahr erstmals dirigieren wird.
Liedhaftes
Keine neue Erkenntnis: Auch kleine Dingen können uns entzücken. In diesem konzertsaallosen Beethoven-Jahr waren das die Lieder. Die gingen selbst in der kleinsten Musizierhütte. So lernte man etwa die – nur in feinen Dosen konsumierbare – Fülle der Auftragsbearbeitungen englischer, schottischer, walisischer und irischer Lieder wertzuschätzen. Und natürlich den berühmten Zyklus „An die ferne Geliebte“. Matthias Goerne und Ian Bostridge haben ihn neueingespielt. Und kurz vor Toreschluss auch noch der schräge, stimmige, absolut ins verzweifelt Schwarze treffende Georg Nigl. „Vanitas“ nennt er seine Sammlung (alpha), die die sechs Lieder mit Werken von Franz Schubert und Wolfgang Rihm einrahmt, kontrastiert, tröstet. Ganz nah und einfach, zerbrechlich und sehnsuchtsvoll tönt das.
Variantenreiches
Es geht auch ohne „e“. Oder gleich so: Bethovn. Oder Bethowen. Oder Bethofn. Es gab damals schließlich keine verbindliche Rechtschreibung. Und der Name, er bedeutet „vom Rübengarten“, liegt sowieso im flandrisch Nebulösen. Albrecht Selge hat daraus „Beethvn“ gemacht (Rowohlt Berlin, 240 Seiten, 22 Euro) Dabei handelt es sich um das verblichene Genre des biografischen Romans. Das der Autor, aus der Fülle der Jubiläumsliteratur ausbrechend, originell variiert, indem er hier mehrere, auch geisterhafte Stimmen über Beethoven sprechen lässt: einen Bewunderer, eine seiner Vorfahrinnen, die verbrannt wurde, die unsterbliche Geliebte, Grillparzer, den Geiger Ignaz Schuppanzigh, eine Grabennymphe (vulgo: Prostituierte), den Neffen Karl. Das ist skurril und einfühlsam. Braucht aber Vorwissen für den vollen Genuss.
Triviales
Wir haben uns angewöhnt, bei Beethoven nur das Große zu sehen, die notenumtosten Gipfelstürmereien, die klingenden Sternstunden der Menschheit. Sei es drum. Viele seine prägnantesten Einfälle und Themen sind von genialer Einfachheit. Und auch Beethoven, die Werkfülle lässt das zu, hat Missliches, Mediokres oder einfach nur Mist komponiert. Die vollständigen Beethoven-Boxen (Naxos, Warner, vor allem Deutsche Grammophon) erlauben da das Stöbern. So findet sich Galantes wie die Serenade für Flöte, Violine und Viola Op. 25, die gerade Emmanuel Pahud neueingespielt hat (Warner). Oder Triviales wie die beiden frühen Habsburger-Huldigungskantaten, die freilich Nikolaus Harnoncourt zu vergolden wusste. Und natürlich ist da der notorische Fehltritt, das sinfonische Kriegsgemälde „Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria“, freilich der heimliche Hit beim Wiener Kongress und auch finanziell äußerst lukrativ. Martin Haselböck hat das ganz angstfrei lärmig neu aufgenommen – am Uraufführungsort der Wiener Akademie der Wissenschaften und sogar mit einem rekonstruierten mechanischen Mälzel-Trompeter (alpha).
Verwandtschaftliches
2020 könnte immerhin, wenn auch viel für Beethoven Geplantes nichts wurde, als das Jahr gelten, an dem man sich langsam doch damit abfindet, dass die die Adressatin jenes 1812 nie abgeschickten, unscheinbar mit Bleistift dahingekritzelten Briefs an „die unsterbliche Geliebte“ mit ziemlicher Sicherheit Gräfin Josephine Brunsvik verwitwete Gräfin Deym, wiederverheiratete Baronin von Stackelberg gewesen ist. Die neuere Literatur lässt das meist gelten, Ulrich Drüner hat in seiner genauen Biografie „Die zwei Leben des Ludwig van Beethoven“ (Blessing, 528 Seiten, 24 Euro) im von der Nachwelt schwer zensierten Briefwechsel immerhin fünf Belegstellen gefunden. Und so könnte vermutlich auch deren 1813 geborene Tochter Theresia Cornelia, genannt Minona das Kind Beethovens gewesen sein. Ändert das aber etwas? Sentimental ja, objektiv nicht. Weit spannender ist hingegen, wie Drüner über Beethovens sehr enge Lebensmenschen schreibt und seine These, dass Beethoven seine Naturerlebnisse als (romantische?) Inspiration zum Komponieren infolge der Ertaubung durch ein Hören nach Innen und auf andere ersetzt, wie seinen bedeutendsten Schüler, den österreichischen Erzherzog Rudolph.
Schriftliches
Uff!! 19.300 von Ludwig van Beethoven eigenhändig beschriebene, bekritzelte, verschmierte, verkratzte, Mühe und Ethos dieses Werks in jedem Federstrich erkennbar werden lassende Notenseiten. Plus weitere 10.000 Blätter handschriftlicher Konversationen, Briefe und andere Dokumente, ergänzt durch 965 Erst- und Frühdrucke seiner Werke sowie Teile seiner Handbibliothek. Das allein ist die Beethoven-Sammlung der Berliner Staatsbibliothek. Dieser gewaltige Materialhaufen ist online recherchierbar und kann in hoher Auflösung betrachtet werden. Man sollte das tun. Denn die Komponistenkrux ist ja immer: Man muss ihre Werke hören. Bei Beethoven sprechen aber, wie bei wenigen anderen, schon die Noten und oft die Zettel, selbst die Einkaufsliste für die Haushälterin. Seine Aufzeichnungen entfalteten immerhin, reichlich und im Original, ihre Faszination in den Ausstellungen in Bonn, Berlin, Wien. Dort vor den Vitrinen verbiss sich immer mehr der Blick in die Noten, saugte sich fest an dieser schnellen, ungeduldigen Handschrift, die über Blätter huscht, andere verletzt, zersticht, zerfetzt, nicht selten ein kaum mehr entzifferbares Schlachtfeld von Partitur hinterlässt.
Ungreifbares
Ludwig van Beethoven wurde 2020 selbst durch die historische Entfernung und die Covid-Ausbremsung einigermaßen nahbar. Denn jeder der wollte, musste sich mit seinem Beethoven befassen. Und trotzdem ist er nicht greifbar. Denn jeder hat einen anderen Beethoven. Von der verehrten Gipsbüste auf dem Klavier, wie beim „Peanuts“-Linus, über die Beethoven-Gummiente (auch im Bonner Beethovenhaus-Shop ein Renner) bis zur gleich mehrfachen graphic novel. Der Ludwig-van-Comic und der hehre „Kuss der ganzen Welt“. Gar keine so weite Geschmacksspanne. Eigentlich. Irgendwo dazwischen bekommt jetzt Patti Smith den mit 10.000 Euro dotierten Internationalen Beethoven-Preis für Menschenrechte, Frieden, Freiheit, Armutsbekämpfung und Inklusion. Die Sängerin, Autorin und Aktivistin, die uns kurz vor dem Beethoven-Jahr noch in der Mailänder Scala bei einer Puccini-Premiere begegnet ist, sagt als bekennende Beethoven-Verehrerin, die Leidenschaft des Komponisten sei ihr stets ein Vorbild für das eigene musikalische Schaffen gewesen.
P. S.
Bleibt also nur noch eines für 2021 anzumerken: „Roll over Beethoven. And dig these rhythm and blues.“ 2027 ist übrigens schon wieder das nächste Beethoven-Gedenkjahr. 200. Todestag. Die ersten neuen Sinfonieboxen sind schon in Planung.
Artikel von & Weiterlesen ( 250. Geburtstag: Sie wissen alles über Beethoven? Von wegen! - WELT )https://ift.tt/3h2s56T
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